Wenn Gleichberechtigung selektiv wird, ist sie keine mehr

Die aktuelle Debatte um das Kopftuch – ausgelöst durch Äusserungen aus eigentlich inklusiven, offenen politischen Kreisen – hat weit über St. Gallen hinaus Wellen geschlagen. Sie berührt zentrale Fragen unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens: Wie ernst meinen wir es mit Gleichberechtigung, Religionsfreiheit und Respekt gegenüber der Vielfalt, die unsere Gesellschaft prägt?

Als Sozialdemokrat stehe ich für eine Schweiz, in der alle Menschen – unabhängig von Herkunft, Religion oder Weltanschauung – gleichwertig und gleichberechtigt sind. Für eine Gesellschaft, die Vielfalt nicht als Risiko begreift, sondern als Stärke. Eine Gesellschaft, die Menschen nach Kompetenz, Haltung und ihrem Beitrag beurteilt – nicht nach Kleidung oder religiösem Ausdruck.

Ein Kopftuch ist kein ideologisches Manifest. Es kann Ausdruck von Identität, Spiritualität oder schlicht persönlicher Freiheit sein. Wer pauschal darüber urteilt, verwechselt Emanzipation mit Bevormundung – und verletzt damit das Grundprinzip sozialer Gerechtigkeit.

Besonders problematisch ist es, wenn Frauen, die in der Schweiz ausgebildet wurden, alle Lehrdiplome erworben und sich bewusst für den Bildungsberuf entschieden haben, vom Unterricht ausgeschlossen werden – nur, weil sie ein Kopftuch tragen. Diese Frauen stehen mitten in unserer Gesellschaft. Sie wollen arbeiten, Verantwortung übernehmen, Kinder fördern, Wissen weitergeben. Sie sind das Gegenteil von Rückzug – sie sind Ausdruck von Integration, Selbstbestimmung und Engagement.

Wer solche Frauen daran hindert, ihren Beruf auszuüben, betreibt kein Empowerment, sondern reproduziert patriarchale Denkmuster. Man verhindert, dass selbstbewusste, gebildete Frauen Teil unserer Bildungsgesellschaft sind – und nennt das dann Neutralität. In Wahrheit ist das das Gegenteil von Gleichstellung: eine subtile, aber tief diskriminierende Form gesellschaftlicher Ausgrenzung, getarnt als Prinzipientreue.

Ein aktueller Fall in Eschenbach/Goldingen SG zeigt, wie schief diese Debatte geraten ist. Eine bestens qualifizierte Primarlehrerin erhielt zunächst die Zusage für eine Stelle – bis einige Eltern sich gegen ihre Anstellung aussprachen, allein wegen ihres Kopftuchs. Der öffentliche Druck führte dazu, dass die Schule die Zusage zurückzog.
Um die entstandene Lücke zu füllen, wurde in letzter Minute eine befristete Lösung organisiert: Ein Team aus einer Studentin und einem Quereinsteiger übernahm die Klasse. Der Quereinsteiger war zuvor über viele Jahre bei der Hof Oberkirch AG tätig – jener Institution, die wegen Misshandlungsvorwürfen in die Schlagzeilen geraten war, lange bevor er dort im Verwaltungsrat sass.
Der Fall zeigt die Absurdität des Systems: Eine hochqualifizierte Lehrerin, die alle Voraussetzungen erfüllt, wird wegen sichtbarer Religiosität ausgeschlossen – während man gleichzeitig mit einer provisorischen Lösung improvisiert. Das ist kein Fortschritt, sondern ein Rückschritt. Es ist das Gegenteil von Chancengleichheit.

Als Partei, die sich den Kampf gegen Diskriminierung auf die Fahnen geschrieben hat, dürfen wir dazu nicht schweigen. Die SP St. Gallen hat vor einigen Jahren das Vielfaltsleitbild der SP St. Gallen (2021) verabschiedet – ein Leitbild, das ich selbst initiiert habe. Es war das erste seiner Art und wurde später auch über die Kantonsgrenzen hinaus als Grundlage für ähnliche Initiativen herangezogen.
Darin steht unmissverständlich:

„Vielfalt ist Voraussetzung für Entfaltung. Alle Menschen haben die gleiche Achtung, Akzeptanz, Rechte und Pflichten – unabhängig von Herkunft, Geschlecht oder Glauben.“

Es verpflichtet uns zu Respekt, Würde und Solidarität mit allen gesellschaftlichen Gruppen und dazu, Diskriminierung ernst zu nehmen und aktiv zu bekämpfen.

Wenn nun aus unseren eigenen Reihen Stimmen laut werden, die Einschränkungen oder gar Verbote religiöser Kleidung für Lehrpersonen fordern, steht das im offenen Widerspruch zu diesen Grundsätzen. Eine solche Haltung reduziert Vielfalt, statt sie zu ermöglichen. Sie schwächt Gleichstellung, statt sie zu stärken. Und sie signalisiert: Sichtbare Religiosität ist verdächtig – solange sie nicht der Mehrheitsnorm entspricht.

Besonders entlarvend ist es, wenn solche Argumente plötzlich Beifall von rechtskonservativer oder rechtsextremer Seite erhalten. Das ist kein Zufall, sondern ein Warnsignal. Denn dort, wo das Kopftuchverbot als Sieg gefeiert wird, geht es nicht um Emanzipation, sondern um die Kontrolle und den Ausschluss bestimmter Gruppen.

Gleichberechtigung ist keine variable Grösse, die sich nach dem Gegenüber richtet. Soziale Gerechtigkeit ist nicht teilbar. Wer sie ernst nimmt, muss sie universell denken – sie gilt nicht für einige, sondern für alle. Für Frauen mit und ohne Kopftuch. Für Christinnen, Musliminnen, Jüdinnen, Atheistinnen. Für alle, die anders leben, glauben oder aussehen.

Ich weiss, dass diese Diskussion unbequem ist. Sie verlangt Mut – auch innerhalb der eigenen politischen Familie. Aber Loyalität bedeutet nicht, Fehler zu verschweigen. Loyalität bedeutet, Werte zu verteidigen. Ich kann nicht still sein, wenn Diskriminierung gesellschaftsfähig wird – egal, ob sie von rechts oder aus den eigenen Reihen kommt.

Wir brauchen keine Anzieh- und Ausziehvorschriften.
Wir brauchen mehr Bildung, Empathie und Dialog. Eine offene Gesellschaft misst sich nicht an der Zahl ihrer Einschränkungen, sondern an der Freiheit, die sie gewährt – auch jenen, die anders leben, glauben oder aussehen.

Für Gleichberechtigung. Gegen Ausgrenzung. Für eine offene Schweiz.
#Sozialdemokratie #SP #Gleichstellung #Religionsfreiheit #Antidiskriminierung #Vielfalt #Integration #Demokratie

Arber Bullakaj stammt aus einer katholischen Familie und ist in einem Land aufgewachsen, in dem über 95% der Bevölkerung muslimisch sind.
Er weiss aus eigener Erfahrung, was es bedeutet, wenn der Mensch – und nicht die Religion – im Vordergrund steht.
Kosova ist in dieser Hinsicht ein bemerkenswertes Beispiel für gelebte Toleranz, gegenseitigen Respekt und gesellschaftlichen Zusammenhalt über Glaubensgrenzen hinweg – ein Modell, von dem auch wir in der Schweiz lernen können.