175 Jahre Demokratie: Für ein vollständiges Bürgerrecht in der Schweiz

Sehr verehrte Mitmenschen,

Liebe Glückspilze,

Liebe Pechvögel,

Liebe Zufalls-Schweizer:innen,

Liebe verifizierte und zertifizierte Schweizer:innen,

Liebe zukünftige Schweizer:innen,

Liebe «ich lasse mich nie einbürgern»-Mitmenschen,

Liebe vielfältige Schweiz,

Geschätzte Anwesende,

Liebe Podiumsteilnehmende,

Liebe Demokratie-Begeisterte und Menschenrechtler:innen,

Buona sera! Bonsoire! Guten Abend!

ich begrüsse Sie herzlich zu diesem besonderen Anlass. Wir haben heute am 12. September um 18:48 Uhr  unsere Türen geöffnet. Das ist, wie ihr euch sicherlich denken könnt, nicht so ganz zufällig gewählt. Es soll an den 12. September 1848 erinnern. Also der Tag, an dem die Schweiz die Türen zur modernen Demokratie geöffnet hat. 175 Jahre ist es her, seit die Schweiz zur Demokratie geworden ist. 

Wusstet ihr, dass die Schweiz damit Europaweit zur Pionierin wurde und somit die älteste Demokratie von Europa wurde? Und sogar die zweitälteste Demokratie weltweit? Wusstet ihr, dass die älteste Demokratie der Welt, die USA, als Vorbild galt und wir vieles von ihnen abgeschaut haben. Z.B. das Zwei-Kammern-System.

Es gab um die Zeit von 1848 viele Bemühungen anderer Länder, sich zu einer Demokratie zu verwandeln. Leider aber, ausser in der Schweiz, ohne Erfolg. Die herrschenden Monarchen haben damals alle Versuche zunichte gemacht. Die Schweiz war somit in der damaligen Männerdemokratie Vorreiterin. Nach und nach ist sie jedoch ins Hintertreffen geraten. Das Frauenstimmrecht hatte es nämlich in der Schweiz besonders schwer und brauchte viele Anläufe, bis es als eines der letzten Orte Europas dann schlussendlich 1971 eingeführt wurde. In Appenzell ging der Kampf sogar noch bis 1990 weiter. 

Nun sind wir an einem Moment, wo die Demokratie in diesem Land wieder scharf hinterfragt werden sollte. Denn auch wenn wir gerne von uns behaupten, wir seien die beste Demokratie der Welt, so sind wir dann die beste Dreiviertel-Demokratie der Welt. Denn ein Viertel der hier lebenden Menschen, die hier arbeiten, Steuern zahlen und immer schon hier waren oder seit Jahren leben, hat kein Mitspracherecht darüber, wie diese Steuern.Das sind über zwei Millionen Mitmenschen, denen wir tagtäglich begegnen und mit denen wir evtl. versehentlich über die nächsten Wahlen reden, obwohl sie noch nie Unterlagen erhalten haben. Sie unterscheiden sich kaum von den «Anderen» ausser, dass sie eben nicht den Schweizer Pass besitzen. 

Und wenn diese Menschen sich dazu entscheiden, einen schweizerischen Pass zu beantragen, müssen sie zu Hindernisläufer:innen werden – und zwar zu besonders gut Informierten.

Oder kennen Sie etwa die Antwort auf Fragen wie: Mit welchem Tier teilt sich der Bär ein Gehege? Wie sieht die häufigste Kuhfarbe in Hinterpfupfingen aus? Wie heißen alle Gasthäuser in Oberriet? Kennen Sie die drei beliebtesten schweizerischen Käsesorten oder die Entscheidungen des Wiener Kongresses von 1815?

Und wenn Sie all das wissen, macht Sie das denn zu einem besseren Schweizer, Schweizerin, der es eben verdient und nicht geschenkt bekommen hat mitzubestimmen oder evtl. einfach zu einem Streber, der oder die der Minderheit angehört. 

Und wenn wir schon dabei sind, sagen Sie mir bitte doch schnell wie oft sie beten und wieso ich Sie letztens mit Trainerhosen durch das Dorf haben laufen sehen? Gehört sich denn das in diesem freien Land?

Diese Fragen stammen nicht etwa aus einem fiktiven Film, und sind auch nicht erfundene lustig gemeinte Sprüche eines «du ghörsch zu de Guete» Migranten, sondern sind nur einige der absurden Fragen, die in Einbürgerungsgesprächen täglich irgendwo in einer schweizer Gemeinde gestellt werden. Ihr Ziel ist dabei die gezielte Selektion der potentiellen neuen Schweizer:innen durch bewusste Spitzfindigkeiten und nicht selten Abschreckung durch Schikane. Dazu kommt eine lange Liste versehen mit diversen Hürden wie kommunale und kantonale Wohnsitzfristen, welche unnötig die Mobilität einschränken.

Das Resultat dieses wohl restriktivesten Einbürgerungsrechts von Europa: über 2 Millionen in der Schweiz zahlen Steuern, arbeiten und leben hier, haben aber nichts zu sagen. Weder in der Demokratie, noch in der Aufenthaltssicherheit. Und wehe sie haben einen Schicksalsschlag und rutschen in die Armut. Dann droht ihnen sogar die Ausschaffung. 

Eine wahrhaftige und liberale Demokratie sollte sich stets hinterfragen und sich laufend verbessern. In gewissen Bereichen gelingt es dann auch, Verbesserungen zu erlangen. Und, was viele nicht wissen, es ging nicht nur sehr langsam voran, nein, wir haben in einigen Bereichen sogar Rückschritte gemacht. 

Während vor hundert Jahren die Einbürgerung hier in der Schweiz als Anfang des so genannten Integrationsprozesses galt, so soll sie heute der Schluss sein, quasi eine Belohnung für gutes Benehmen. Als würde es sich bei Personen ohne Schweizer Pass alles um Unmündige handeln, denen man das Stimmrecht nicht zutraut. 

Während man in der Schweiz vor 100 Jahren nach 2 bis 5 Jahren mit einer Einbürgerung rechnen konnten, so sind es heute mindestens 10 Jahre – für Geflüchtete und vorläufig Aufgenommene in der Regel viel mehr. Stolz sagen wir von Albert Einstein, er sei der intelligenteste Mensch der Welt und Schweizer gewesen. Nun, er war Migrant und hat den Schweizer Pass nach 5 Jahren in der Schweiz erhalten. 

Diese und noch weitere Verschärfungen wurden erst in den letzten Jahrzehnten und teilweise ohne grosse politische Diskussion oder medialen Aufschrei eingeführt. 

Fast 40% der Bevölkerung haben einen Migrationshintergrund. In über 50% der Haushalte lebt mindestens eine Person, welche einen Migrationsvordergrund hat. 

Die Gesetzesverschärfungen und unser Bürgerrecht laufen also diametral zur Bevölkerungsrealität. Man könnte fast sagen, unser Bürgerrecht ist schlecht in der Schweizer Gesellschaft integriert. 

Damit muss Schluss sein. Es ist höchste Zeit für ein Bürger:innenrecht, welches den Ansprüchen der Schweizer Demokratie gerecht wird. 

In 6 Wochen finden nationale Wahlen statt, und kaum jemand spricht darüber, dass dabei nur drei Viertel der Schweizer Bevölkerung mitreden dürfen. 

Die Schweiz braucht einen grundsätzlichen Paradigmenwechsel: Ein Anspruch auf Einbürgerung für alle, die dauerhaft hier leben, soll an Stelle der heute oftmals willkürlichen und schikanösen Verfahren treten. Gleiche Rechte sind das Fundament jeder modernen Demokratie und kein Privileg, das man sich als Bittsteller:in verdienen muss.

Aus diesem Grund haben wir den Verein Aktion Vierviertel, als breit abgestützte zivilgesellschaftliche Bewegung ins Leben gerufen. 

Und deshalb hat der Verein Aktion Vierviertel die Demokratie-Initiative lanciert. 

Der Initiativtext eliminiert zum einen die Willkür und zum Anderen die kantonalen und kommunalen Wohnsitzfristen. 

An Stelle dessen stehen objektive und grundsätzlich niederschwellige Bedingungen, welche in einem pragmatischen Kompromissvorschlag ausgearbeitet wurden. 

Liebe Mitmenschen, 175 Jahre nach dem Entstehen der modernen Schweiz und 52 Jahre nach der viel zu später Einführung des Frauenstimmrechts ist es höchste Zeit für eine vollwertige Demokratie. Wir müssen von der Defensive, endlich die Flucht nach vorne ergreifen und gemeinsam in die Offensive gehen. Die fortschrittliche Demokratie und die vielfältige Schweiz dankt euch ganz herzlich! 

Ich wünsche Ihnen heute einen tollen Abend und eine spannende Diskussion. Ich danke den Podiumsteilnehmenden, dem Moderator und der Musikband younique für eure Teilnahme und ich bedanke mich herzlich bei meinem Team für die Organisation.